Eine eher unscheinbare Meldung auf einem von mir häufig frequentierten Technik-Blog machte mich neugierig: „Lichtriese von 7Artisans: 35mm f/0.95 für APS-C“. Da war sie wieder, diese Null vor dem Komma bei der Lichtstärke, die früher in finanziell unerreichbarer Ferne lag! Das Angebot des Chinesischen Herstellers für das manuell fokussierte Schätzchen lag bei einem Vierzigstel des Preises, der für das deutsche Referenzprodukt mit dem roten Punkt aufgerufen wird. Da gibt es nicht viel zu überlegen…
Wer aber erwartet, dass der kleine „Lichtriese“ mit viel Glas beeindruckt, der wird sicher enttäuscht sein. Das mechanisch sehr sauber gearbeitete Objektiv kommt eher unscheinbar daher. Warum auch? Ein Blick in ein Lehrbuch der fotografischen Optik sagt es uns: „Die Lichtstärke, auch als relative Öffnung oder Öffnungsverhältnis bezeichnet, wird immer als Verhältnis zwischen Eintrittspupille und Brennweite angegeben.“ (Marchesi, Handbuch der Fotografie, 1993). Die Blendenzahl (f-stop), die im Objektivring eingraviert ist oder auf dem Kameradisplay angezeigt wird, ist der Kehrwert dieses Verhältnisses.
Diese einfache mathematische Betrachtung erklärt, warum wir die spektakulären „Lichtriesen“ vor allem bei längeren Brennweiten finden. Ein besonders eindrucksvoller Vertreter dieser Objektivklasse ist das legendäre NIKKOR 85mm-Portraitobjektiv mit der Lichtstärke 1.4 und 61mm Eintrittspupille (85mm/1.4=61mm). Für unser 35mm-Objektiv reichen 38mm Eintrittspupille, um die „sagenhafte“ Lichtstärke von 1:0,95 zu erreichen!
Doch brauchen wir diese extremen Anfangsöffnungen heute überhaupt noch? Im vordigitalen Zeitalter war eine große „Lichtstärke“ für viele Aufnahmebereiche unverzichtbar. Als das 1.4/85mm mit seiner beeindruckenden Frontlinse 1982 von Nikon auf den Markt gebracht wurde, lag die maximal verfügbare Filmempfindlichkeit bei ISO400. Theater- und Konzertfotografen, aber auch Bildjournalisten waren also auf große Anfangsöffnungen angewiesen. Und die Hersteller ließen sich den Zuwachs an Empfindlichkeit gut bezahlen…
Und heute? Was ist geblieben vom Nimbus der Lichtriesen? Vier- bis Fünfstellige ISO-Werte und um bis zu vier Lichtwertstufen längere Belichtungszeiten durch VR-Systeme lassen große Anfangsöffnungen obsolet erscheinen.
Wäre da nicht eine optische Eigenschaft, die durch digitale Algorithmen noch nicht vollständig ersetzt werden kann: Die von Portraitfotografen so sehr geschätzte extrem geringe Schärfentiefe der „Lichtriesen“ bei offener Blende!
Und das ist auch die Antwort auf die Frage: Wozu braucht man heute ein Objektiv mit einer „Null vor dem Komma“? Ob da 10.000€ für ein 50mm f/0,95 Noctilux-M noch zeitgemäß sind, muss jeder selbst entscheiden. 260€ für ein 35mm f/0.95 von 7Artisans sind es allemal…